Lektion 6 von 41

Exkurs: Neuroanatomie

Da die CT-Perfusion am häufigsten bei Patient*innen mit akutem ischämischen Schlaganfall angewandt wird, ist es wichtig, sich mit der Neuroanatomie – den hirnversorgenden Gefäßen und Gefäßterritorien – auszukennen. Diese Lektion soll Dir eine Übersicht über die wichtigsten Strukturen und Besonderheiten des Circulus arteriosus Willisii geben.

Mache den Test. Wenn Du diese 5 Fragen richtig beantworten kannst und keine Nachfragen bestehen, kannst Du diese Lektion überspringen.


Circulus arteriosus Willisii

Die Hirnbasisarterien werden in eine vordere und eine hintere Zirkulation unterteilt:

  • Vordere Zirkulation: Die distale A. carotis interna rechts und links teilt sich jeweils in die A. cerebri anterior und A. cerebri media auf. Dabei werden die paarigen Aa. cerebri anteriores über eine A. communicans anterior miteinander verbunden (“communicans”).
  • Hintere Zirkulation: die distale A. vertebralis rechts und links verbindet sich zu der A. basilaris. Die A. basilaris teilt sich in die rechte und linke A. cerebri posterior. Über die paarigen Aa. communicans posteriores werden die distalen Abschnitte der A. carotis interna mit den proximalen Anteilen der Aa. cerebri posteriores miteinander verbunden (“communicans”).
Circulus Willisii

Jetzt folgt die präzise Bezeichnung der anatomischen Strukturen (“der neuroradiologische Touch” 🙂 ). Um Dich aktiv zu halten, bekommst Du zwischendurch immer wieder Fragen gestellt!


Vordere Zirkulation

Intrakranielle A. carotis interna (ACI)


  • Die A. carotis interna tritt auf Höhe der A. ophthalmica nach intradural.
    • Merke: ab dieser Lokalisation (= paraophthalmisch oder supraophthalmisch) sind Aneurysmen relevant; infraophthalmische Aneurysmen sind nur relevant, wenn sie raumfordernd sind und auf Hirnnerven (z.B. im Sinus cavernosus) drücken – wenn supraopthalmische Aneurysmen rupturieren, kommt es zu einer Subarachnoidalblutung; sollten infraophthalmische Aneurysmen rupturieren, ist das extrakranielle Blut irrelevant.
  • Nach der A. ophthalmica gibt die intrakranielle A. carotis interna die A. communicans posterior und die A. choroidea anterior (letzter Ast) ab, bevor sie sich in die Endäste A. cerebri anterior und A. cerebri media aufteilt. Den Abschnitt ab der A. ophthalmica wird häufig als “distale A. carotis interna” oder als “Pars cerebralis” (nach anatomischem Verlauf) und die Teilungsstelle der Endäste als “Carotis-T” bezeichnet.
    • Expertenwissen: die A. choroidea anterior versorgt den hinteren Teil der Capsula interna (und damit Teile der Pyramidenbahn).
DSA Anatomie ACI

DSA: Kontrastmittel-Injektion über die A. carotis interna in lateraler Projektion

A. cerebri media (ACM)



  • Die A. cerebri media wird in vier Segmente unterteilt: M1, M2, M3 und M4.
  • M1-Segment: beginnt am Abgang aus der A. carotis interna und endet mit der Mediabifurkation (Konsens in der neuroradiologischen Community).
    • Merke: in einigen Lehrbüchern und in der Literatur wirst Du zum Teil eine differente Definition finden; hierbei beginnt das M1-Segment am Abgang der A. carotis interna und endet am Genu (am Anfang der Inselrinde), an dem das Gefäß in eine 90° Kurve übergeht.
    • Entlang des M1-Segments entspringen die Perforatoren (Aa. lenticulostriatae / lentikulostriatale Äste), welche die Stammganglien und die Capsula interna versorgen. Man sieht diese kleinen Äste weder in der CTA noch in der MRA, sondern nur in der DSA.
    • Einen kaliberstarken Ast entlang des M1-Segments, welchen man in der CTA oder MRA manchmal erkennen kann, ist die A. temporalis anterior – man erkennt das Gefäß daran, dass es nach anterior und temporal zieht. Das Gefäß wird häufig verkannt und die Aufzweigung fälschlicherweise als “frühe Mediabifurkation” bezeichnet.


  • M2-Segment: es gibt in der Regel 2 Äste (die Mediatrifurkation ist selten), welche an der Mediabifurkation beginnen, horizontal verlaufen und im Sulcus der Inselrinde an der 90° Kurve enden. Die M2-Segmente werden als Truncus superior und Truncus inferior bezeichnet. Du kannst auch einfach “M2-Ast” sagen, aber präziser ist Truncus superior (= frontale M2-Ast) oder Truncus inferior (= temporoparietaler M2-Ast):
    • Der Truncus superior verläuft (wie der Name sagt) superior und zieht nach frontal zum frontalen Operkulum. Auf der dominanten Hemisphäre (bei Rechtshändern entspricht dies der linken Hemisphäre; bei Linkshändern entspricht dies meist beiden Hemisphären) versorgt dieser frontale Ast somit das Broca-Areal (= motorisches Sprachzentrum).
    • Der Truncus inferior verläuft (wie der Name sagt) inferior und zieht nach temporal. Auf der dominanten Hemisphäre versorgt dieser temporale Ast somit das Wernicke-Areal (= sensorisches Sprachzentrum).
    • Die Zentralregion mit dem motorischen Kortex (= sensomotorischer Homunkulus) wird häufiger von Ästen des dominanten (kaliberstärkeren) Truncus inferior versorgt; weniger häufig ist der Truncus superior dominant oder beide Gefäße co-dominant und versorgen dann die Zentralregion.
  • M3-Segment: in der DSA erkennt man meist 6 M3-Äste. Die M3-Äste verlaufen ab der 90° Kurve in der Sylvischen Fissur horizontal bis zur Hirnoberfläche/Kortex.
  • M4-Segment: ab der Hirnoberfläche (in der Regel erkennt man dies an der erneuten 90° Kurve und dem vertikalen Gefäßverlauf) entlang des Kortex spricht man von M4-Ästen.
DSA Anatomie A. cerebri media

DSA: Kontrastmittel-Injektion über die rechte A. carotis interna in frontaler Projektion

A. cerebri anterior (ACA)


  • Formal unterscheidet man die 5 Segmente A1-A5: klinisch relevant sind jedoch A1-A3.
  • A1-Segment (horizontal, pre-communicating): beginnt am Abgang aus der A. carotis interna und endet an der A. communicans anterior.
  • A2-Segment (vertikal, post-communication, infracallosal): beginnt ab der A. communicans anterior bis zur Bifurkation in die A. pericallosa (kaliberstarker Ast entlang des Corpus callosum) und der etwas kaliberärmeren A. callosomarginalis.
    • Expertenwissen: aus dem A2-Segment geht häufig die Heubner-Arterie (A. recurrens) hervor, welche nach dorsalseitig lateral zieht und die vorderen Anteile der Stammganglien und den vorderen Schenkel der Capsula interna versorgt (und damit Teile der Pyramidenbahn).
  • A3-Segment (precallosal): entspringt distal des Abgangs der A. callosomarginalis und verläuft um das Genu des Corpus callosum bis zur Kurve, wo sie direkt posterior über dem Corpus callosum abbiegt.
  • A4-Segment (supracallosal): verläuft horizontal oberhalb des Corpus callosum anterior der Sutura coronalis.
  • A5-Segment (postcallosal): verläuft horizontal oberhalb des Corpus callosum posterior der Sutura coronalis.
DSA Anatomie A. cerebri anterior

DSA: Kontrastmittel-Injektion über die linke A. carotis interna in frontaler und sagittaler Projektion


Hier siehst Du eine Übersicht der Perfusionsverzögerungen (Tmax Erhöhung) bei entsprechendem Gefäßverschluss im vorderen Stromgebiet:

  1. Verschluss der ACI: betroffen ist das komplette linksseitige Anterior- und Mediastromgebiet
  2. Verschluss des A2-Segments: betroffen ist das linksseitige Anteriorstromgebiet
  3. Verschluss des proximalen M1-Segments: betroffen ist das komplette linksseitige Mediastromgebiet
  4. Verschluss des distalen M1-Segments: betroffen ist das komplette linksseitige Mediastromgebiet unter Aussparung der Stammganglien
  5. Verschluss des Truncus superior: betroffen ist das Areal links frontooperkulär im Mediastromgebiet
  6. Verschluss des Truncus inferior: betroffen ist das Areal links temporal im Mediastromgebiet
  7. Verschluss eines M3-Segments: betroffen ist ein peripheres Areal links temporal (weniger betroffenes Volumen als bei einem Verschluss des Truncus inferior)

Hintere Zirkulation

Intrakranielle A. vertebralis (VA)


  • Nach der Atlasschleife tritt die A. vertebralis durch die Dura; der intrakranielle Abschnitt wird als V4-Segment bezeichnet.
  • Intrakraniell gibt die A. vertebralis die A. cerebelli inferior posterior (PICA) ab, welche (wie der Name sagt) den dorsalen, unteren Anteil des Kleinhirns versorgt; darüber hinaus gibt es Perforatoren zur Medulla oblongata.
  • Expertenwissen: aus der A. vertebralis entspringen die A. spinalis anterior und die A. spinalis posterior, welche das Rückenmark versorgen; die A. spinalis anterior kann man in der DSA erkennen (für den Nachweis in der CTA oder MRA ist das Gefäß zu fein).

A. basilaris (BA)


  • Die A. basilaris ist die wichtigste Arterie unseres Körpers, da sie den Hirnstamm versorgt und damit alle lebenswichtigen Funktionen.
  • Die A. basilaris entsteht am Confluens aus der rechten und linken A. vertebralis und teilt sich in ihre Endäste, die rechte und linke A. cerebri posterior, auf; meist unterteilt man die A. basilaris in einen proximalen, mittleren (= midbasilär) und distalen Gefäßabschnitt. Die A. basilaris gibt Perforatoren zum Kleinhirn und Pons ab. Wichtige paarige Äste sind die A. cerebelli anterior inferior (AICA) und die A. cerebelli superior (SCA).
  • Merke: PICA, AICA und SCA sind in ihrem Ursprung extrem variabel – manchmal entspringt die PICA nicht aus der VA, sondern aus der BA; PICA, AICA oder SCA können auf einer Seite doppelt oder dreifach vorliegen oder auch gar nicht vorhanden sein. Daher suche in der CTA nicht nach einem isolierten Verschluss der AICA oder SCA – die CT-Perfusion hilft Dir weiter (in Korrelation mit der Klinik); die PICA ist von den 3 Kleinhirnarterien meist die kaliberstärkste und in Kenntnis einer pathologischen CT-Perfusion kann man manchmal den Verschluss nachweisen.

A. cerebri posterior (ACP)


  • Formal unterscheidet man die 5 Segmente P1-P5: klinisch relevant sind jedoch P1-P3.
  • P1-Segment (horizontal, pre-communicating): beginnt am Abgang aus der A. basilaris und endet an der A. communicans posterior. Perforatoren aus dem P1-Segment versorgen den Thalamus.
    • Expertenwissen: aus dem P1-Segment geht selten ein unpaariger Gefäßast – die Percheron-Arterie – hervor; diese Gefäßvariante versorgt die beidseitigen paramedianen Thalamusanteile und das rostrale Mittelhirn.
  • P2-Segment (vertikal, post-communication): beginnt ab der A. communicans posterior bis zur Cisterna quadrigemina.
  • P3-Segment (quadrigeminal): verläuft weiter bis zu den Sulci des Okzipitallappens.
  • P4-Segment (cortical): verläuft an der Hirnoberfläche entlang der Sulci des Okzipitallappens
  • P5-Segment (terminal): so werden die terminalen Äste bezeichnet.
DSA Anatomie hintere Zirkulation

DSA: Kontrastmittel-Injektion über die linke A. vertebralis in frontaler Projektion


Hier siehst Du eine Übersicht der Perfusionsverzögerungen (Tmax Erhöhung) bei entsprechendem Gefäßverschluss im hinteren Stromgebiet:

  1. Verschluss der linken VA mit Verschluss der linken PICA: betroffen ist der linksseitige dorsale und kaudale Anteil des Kleinhirns; die rechte VA und BA müssen hier perfundiert sein, da der Hirnstamm nicht betroffen ist.
  2. Verschluss der BA: der gesamte Hirnstamm und der Großteil des Kleinhirns sind betroffen; wenn Du genau schaust, erkennst Du, dass der dorsale und kaudale Anteil des linksseitigen Kleinhirns nicht wesentlich betroffen sind – demnach ist wahrscheinlich die rechte VA ebenfalls verschlossen und die linke VA ausreichend perfundiert.
  3. Verschluss der rechten SCA: betroffen ist der dorsale und ventrale obere Anteil des rechtsseitigen Kleinhirns; die BA muss hier regelhaft perfundiert sein, da der Hirnstamm nicht betroffen ist. Isolierte Verschlüsse der Kleinhirnarterien sind keine Indikation für eine endovaskuläre Therapie (das Blutungsrisiko bei der Sondierung der Verschlusslokalisation ist im Verhältnis zum Nutzen zu hoch!).
  4. Verschluss des rechtsseitigen P1-Segments: betroffen ist das Areal rechts temporookzipital im Posteriorstromgebiet inklusive des Thalamus
  5. Verschluss des rechtsseitigen P2-Segments: betroffen ist das Areal rechts temporookzipital im Posteriorstromgebiet unter Aussparung des Thalamus

Die Indikation zur mechanischen Thrombektomie bei Gefäßverschlüssen in “medium vessels” (MeVo) – dazu zählen M2, M3, A2, A3, P2 und P3 – wird aktuell in Studien untersucht (z.B. ESCAPE-MeVo oder DISTAL). Daher ist es klinisch relevant, diese peripheren Segmente zu kennen und voneinander abzugrenzen.

Zum Schluss: Normvarianten

Hier findest Du eine Übersicht von Normvarianten (gezeigt sind TOF-MRA), die Du kennen solltest – auch um diese nicht als Gefäßverschluss fehlzuinterpretieren:

  1. Aplasie des A1-Segments: Es ist kein Flusssignal des linken A1-Segments erkennbar. Das A2-Segment (und weitere periphere Segmente) der linken A. cerebri anterior werden hierbei über die rechte Seite versorgt.
  2. Hypoplasie des A1-Segments: Das linke A1-Segment ist im Vergleich zum rechten kaliberschmächtig.
  3. Mediatrifurkation links sowie zusätzlich doppelte AICA links
  4. Fenestration der proximalen A. basilaris
  5. Embryonale A. cerebri posterior rechts: Die A. communicans posterior ist kaliberstärker als das rechte P1-Segment (dieses ist kaum abzugrenzen).
  6. Vertebrobasiläre Hypoplasie mit embryonaler A. cerebri posterior beidseits: Da die Aa. cerebri posteriores über die vordere Zirkulation versorgt werden, sind die weiteren Gefäße der hinteren Zirkulation (Aa. vertebrales und A. basilaris) kaliberschmächtig.
  7. Persistierende A. trigemina primitiva: Die A. trigemina primitiva, welche normalerweise obliteriert, ist noch vorhanden und verbindet die distale A. carotis interna mit der A. basilaris (in diesem Fall rechtsseitig). Die A. basilaris ist kaum abzugrenzen (fehlendes/schwaches Flusssignal) und die Aa. vertebrales sind PICA-endend.